Wir nehmen den klassischen Weg mit dem Flieger nach Marrakesch und von hier mit dem Kleinbus bis zum 80 km entfernten Gebirgsdorf Imlil auf 1.700 Meter über NN. Dort endet auch die Straße. Weiter geht es nur noch zu Fuß, zusammen mit den Maultieren, die unser Gepäck in die Hochlager schleppen. Nach einer kleinen Einlauf- und Kennenlerntour rund um Imlil, schrauben wir uns am darauf folgenden Tag, bei leichtem Dauerregen, mit Bergführer Ibrahim, Gruppenleiter Abdullah und Koch Mohamed, Schritt für Schritt "gut konditioniert" weiter nach oben. Auf der Tamsault-hütte auf 2.250 Meter ist nach 12 km die erste Etappe erreicht. Vor dem Einschlafen regnet es noch besonders heftig, aber am nächsten Morgen ist die Natur wie verwandelt und es erwartet uns ein strahlend blauer Himmel. Das hebt die Stimmung beträchtlich.
Auf kaum sichtbaren Pfaden geht es höher hinauf. Es gibt in dieser sehr einsamen Region keinerlei Beschilderung. Eine Notversorgung bei einem Unfall würde schon hier erhebliche Probleme bereiten. Sehr angenehm für uns ist in all den Tagen die Rast unter freiem Himmel, wo uns fleißige Helfer hervorragend verpflegen. Vorbei an gigantischen Wasserfällen und ersten Schneefeldern erreichen wir schließlich bei 3.550 Meter die höchste Stelle der Tagestour und nach 7 Stunden kommen wir im letzten Hochlager auf 3.200 Meter, am Fuße des Jebel Toubkal, an. Auch wegen des späten Jahres liegt hier Anfang Mai noch reichlich Schnee.
Unsere Gruppe hat bisher gut funktioniert und wir sind fest gewillt, als einer der Ersten in 2018 den Jebel Toubkal zu erklimmen. Am fünften Tag blasen wir schließlich zum Marsch auf den Gipfel. Mit Steigeisen und Stöcken "bewaffnet", geht es gut voran. Flüssige und feste Nahrung gilt es sorgsam zu sich zu nehmen. Ich bin dankbar für das Dabeisein. Der Aufbruch zu diesem Ziel ist für mich etwas radikal Schönes. Der Abstand von der Normalität des Alltages lässt den Kopf freier und die Lunge weiter werden. Wir rücken zusammen in hochmontaner Region. Hier oben begegnet mir mal wieder auch meine Religion, die Ehrfurcht vor der Natur. Hier ist alles so schlicht und einfach und es wird dennoch so viel geboten. Für mich ist dies ein Gang nach oben und innen zugleich, auch ein Erholungsrezept und ein Kontrapunkt zu einer immer dominierender werdenden digitalen Welt. Kleinere Kreislaufprobleme in der Gruppe werden überwunden und nach weniger als vier Stunden stehen wir auf dem Dach von Nordafrika. Es bleibt sogar noch Zeit für ein kleines Picknick kurz unterhalb des Gipfels, bevor es wieder steil nach unten geht.
Jene, die sich körperlich noch gut fühlen, planen für den nächsten Tag als Zugabe noch die Besteigung zweier weiterer Viertausender, die felsiger und schneereicher als der Toubkal sind. Für mich ist dies nochmals eine ganz besondere Herausforderung, die letztlich von Erfolg gekrönt wird.
Um 4:30 Uhr starten wir mit Stirnlampen und bei ordentlichen Minusgraden in die sternenklare Nacht. Nach anstrengenden vier Stunden und eisig kalten Händen bin auch ich auf dem "Timesguida" (4.089 m) angekommen. Von ganz oben hat man an diesem Tag einen fantastischen Blick in die Weite der Landschaft, bis hinunter zur beginnenden Südsahara. Es herrscht eine ehrfürchtige Stille und es kommt mir Goethe´s "Wandrers Nachtlied" in den Sinn: "Über allen Gipfeln ist Ruh´, über allen Wipfeln spürest du, kaum einen Hauch …". Welch ein Gefühl!
Nachdem wir nur eine Stunde später mit dem "Ras Ouanoukrim" (4.083 m) auch noch den zweiten Viertausender in felsigem Terrain erklommen haben, geht es dann von ganz oben "in einem Rutsch", teilweise auch auf dem Hosenboden (wie kleine Kinder), über 2.400 Meter wieder hinunter. Unterwegs erwarten uns traumhafte, wilde Hochgebirgslandschaften mit ungezügelten Wasserläufen. Die aufblühende Frühlingsflora verzaubert dabei in aufregender Weise unsere Sinne. Einige in unserer Mannschaft fotografieren, was die Kameras hergeben. Weiter unten begegnen uns immer wieder "beladene" Maultiere, auf ihrem beschwerlichen Weg "hinauf". Manchmal ist es gar nicht so einfach, aneinander vorbei zu kommen. Zunehmend werden am Wegesrand selbst angebaute Nahrungsmittel und auch einfaches Kunsthandwerk angeboten. Wir treffen in einer reizvollen Verpflegungsstation, direkt am Gebirgsbach, wieder auf den Rest der Gruppe und marschieren gemeinsam zurück zum Bergdorf Imlil. War ich auf den Gipfeln noch ganz vorne, so haben insgesamt über 20 km Marsch und Kletterei bei mir doch leichte "Schleifspuren" hinterlassen und ich bin froh und dankbar, dass mein lädiertes linkes Knie durchgehalten hat.
Unten geht es vielerorts zu, wie bei uns vor 100 Jahren. Fast alle Wege sind noch unbefestigt und vor vielen Häusern werden Waren feilgeboten. Überall laufen Maultiere umher und Kühe "muhen" wild durcheinander. Jeder strebt durch irgendwelchen Verkauf ein bescheidenes Einkommen an. Das Zusammenleben orientiert sich noch stark an den Vorgaben der Natur, obwohl auch die sogenannte Zivilisation schon reichlich unschöne Spuren hinterlassen hat (u. a. jede Menge Plastikabfälle). Letztlich vollziehen die Bewohner einen permanenten Spagat zwischen Mittelalter und Moderne, der nicht immer gut gelingt. Dabei empfinde ich die täglichen fünf Gebetsaufrufe der Muezzins einerseits als Relikte aus einer vergangenen Zeit, anderseits sind sie aber offensichtlich noch immer höchst aktuell. Dass man sich bei der Verkündigung moderner Akustik (Lautsprecher) bedient, entbehrt nicht einer gewissen Skurrilität.
Ich hatte tolle Bergerlebnisse im ganz Hohen Atlas mit einer sympathischen Mannschaft, die mich immer wieder neu motiviert hat. Zurück in den "Niederungen" gönnen wir uns noch einen Tag Entspannung in der "Märchenstadt" Marrakesch mit all ihren morgenländischen Besonderheiten und ihrem exotischen Flair. Auf dem größten Gauklermarkt Afrikas lassen wir eine in vielerlei Hinsicht erlebnisschwere, abenteuerliche Reise entspannt ausklingen.
Heribert Erbes